Im Gespräch mit

Sef Cavendish

Gemeinschaft
Mai 2022

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Pronomen: They/Er

In dieser Pride-Saison ehren wir die Aktivisten - vergangene, gegenwärtige und zukünftige -, die sich für LGBTQ+ Befreiung und gleiche Rechte einsetzen. Sef Cavendish ist autistisch, schreibt, hat die Konversionstherapie überlebt, studiert und kritisiert die Psychologie und bezeichnet sich selbst als Gender-Anarchist. Sef ermutigt die Menschen, außerhalb des bestehenden, unterdrückenden Systems unserer Welt zu denken und zu handeln, ganz gleich, ob es sich dabei um verletzende, verinnerlichte Narrative handelt oder um Machtstrukturen, von denen wir profitieren.

Wie bist du dahingekommen, wo du heute stehst?

Eine kleine Randnotiz zu meiner Lebensgeschichte: Ich war während meiner Schulzeit immer in Begabtenprogrammen, aber ich war ein außerordentlich sensibles, wählerisches, vergessliches, hyperaktives und sehr „unladylikes“ Kind, weshalb ich viel und harsch kritisiert worden bin. Ich hatte das Gefühl, entweder zu viel oder nicht genug zu sein, und meinen Selbstwert definierte ich ausschließlich über meine Noten. Ich wurde so ängstlich und depressiv, dass ich zum College-Start ausgebrannt war, nicht mehr mithalten konnte und durchfiel. Es fühlte sich an, als wäre ich einfach nicht für diese Welt geschaffen. Ich befand mich in der lebensbedrohlichsten depressiven Episode meines Lebens und ich weiss noch, dass ich dachte: „Entweder sterbe ich jetzt oder ich verschaffe mir etwas Zeit, um einen Plan zu machen.“


Ich fand einen Job, in dem ich mit autistischen Kindern arbeitete, was mir leicht erschien und Spaß machte. Ich hatte keine Ahnung, wie sehr das mein Leben verändern würde. Ich begann, mir die Schulungsvideos für den Job anzugucken, und als ich den Leitsatz des Unternehmens hörte, dass durch die Therapie „die Kinder nicht von anderen Gleichaltrigen zu unterscheiden sein werden“, überfluteten mich die traumatischen Erinnerungen eines Sozialkompetenzprogramms, in das ich als Kind gesteckt wurde. Unter Tränen machte ich das Video aus und begann stattdessen damit, alles zu verschlingen, was ich über Menschen mit Autismus finden konnte. So erfuhr ich, dass es aufgrund einer langen Geschichte von Sexismus und Rassismus in der Erforschung und Kategorisierung psychiatrischer Bezeichnungen eine riesige Community von Menschen gab, die ihr ganzes Leben damit zu kämpfen hatten, nicht zu wissen, dass es eine Erklärung für ihre Unterschiede und Lösungen für ihre Probleme gab, bis es fast zu spät war. Nach meiner Diagnose wollte ich den Menschen helfen, Zugang zu diesem Selbstverständnis zu bekommen, denn es hat mir buchstäblich das Leben gerettet.



Wann hast du damit angefangen, Content zu produzieren und auf Social Media zu teilen?

Verglichen mit anderen Bereichen steht die neurodiverse Community nicht einmal auf der Karte der sozialen Gerechtigkeit. Du kannst nicht leugnen, dass es Homophobie gibt, aber bis heute höre ich Leute sagen, dass es keinen Ableismus gibt, weil sie nichts davon bzw. von unseren Erfahrungen gehört haben. Wenn ich mich nicht auf diese Stelle beworben hätte, wüsste ich vielleicht immer noch nichts über mich, verdammt. Die von uns, die früh im Leben identifiziert/diagnostiziert werden, haben nur Zugang zu einem düsteren Narrativ, das uns als falsch darstellt, eine Geschichte, die queere Menschen mit homophoben Eltern nur zu gut kennen. Die ständige Botschaft, "sonderbar" oder "zu sensibel" oder einfach nicht erwünscht zu sein, trägt zu den tragisch hohen Selbstmordraten in unseren Communities bei. Für queere und neurodiverse Menschen ist Scham buchstäblich tödlich.

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Der verhaltenstherapeutische Job, so entdeckte ich etwas später, war beeinflusst von vielen Mechanismen der Konversionstherapie, es gab dieselben traumatisierenden Praktiken, die ich aus meinen Kindheitserinnerungen verbannt hatte. Ich versuchte, dagegen anzugehen, aber mir wurde nicht zugehört und ich musste das Feld verlassen, weil ich verstand, dass ich nicht mehr tun konnte, um diese Kinder zu beschützen. Ich beschloss, wieder zur Schule zu gehen, um einen größeren Unterschied machen zu können, aber das dauerte mir zu lange. Die Menschen litten jetzt. Ich wusste, dass ich nicht die Skills für öffentliche Politik hatte, und dass das Marschieren auf Demonstrationen mich überfordern würde. Aber meine Behinderung hat mich gelehrt, nicht auf das zu gucken, was ich nicht kann, sondern mich auf das zu konzentrieren, was ich kann, also begann ich, online zu schreiben. Mit meinem Handy als Megafon, rief ich autistische Menschen dazu auf, mehr öffentlichen Raum einzunehmen, Stimming zuzulassen, selbstbewusst ihren „sonderbaren“ Interessen nachzugehen und alle, die uns Fragen stellen, mit Infos zuzuschütten. Ich erinnere mich, dass ich dachte: „Ich hoffe echt, dass das viral geht.“ Die Tatsache, dass ein 30-sekündiges Video, das sich auf die Aussage „Es ist ok, du selbst zu sein“ herunterbrechen lässt, das Leben von mehr als einer Million Menschen verändert hat, liess mich aber nicht stolz auf mich werden. Vielmehr entsetzte es mich, zu erfahren, wie sehr meine Community nach einem Hoffnungsschimmer lechzte. Ich verbringe meine Tage nicht mehr, indem ich mich wertlos und verloren fühle, Ich habe meine Aufgabe darin gefunden, mein Leben und meine Karriere der Veränderung des Narrativs vom Falschen und Pathologischen hin zu einem positiver Identität zu widmen.

Wer sind die Menschen, die dir den Weg geebnet haben?

Ich habe meinen Weg durch eine einzige Person gefunden. Nachdem ich in der Schule durchgefallen war und bevor ich diesen Verhaltenstechniker-Job gefunden habe, war ich eine nicht geoutete queere Person in einer ernsthaften Beziehung mit einem cishetero Mann. Er hatte gerade seinen Doktortitel gemacht, wir waren kurz davor, umzuziehen und ich arbeitete bis dahin in einem kleinen veganen Restaurant.


Eine meiner Kolleginnen war eine trans* Frau, die erste offene trans* Person, die ich traf. Eines Abends, als alle anderen bereits Feierabend gemacht hatten, kam sie auf mich zu und fragte mich nach meinen Pronomen. Ich erstarrte und sagte ihr, dass ich das nicht wisse. Ich hatte mir kurz vorher einen Undercut schneiden lassen und sie sagte: „Die Frisur… Schätzchen, ich weiss es.“ Und das wars. Ich brauchte nur einen Menschen, der mich wirklich als queer sieht und mir die Erlaubnis gibt, mich innerhalb des Narrativs zu identifizieren. In unseren Gesprächen, die wir bei der Arbeit führten, hat sie meine Wahrnehmung von Queerness verändert, und ich glaube, das ist auch, was ich mit dem Konstrukt von Autismus machen möchte.

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Du äußerst dich laut zu vielen Themen, dazu gehören Neurodiversität und Queerness. Wie überschneiden sich diese Bereiche für dich?

Ich glaube, die Natur des Autismus ist in vielerlei Hinsicht „queer“. Wenn die Gehirne autistischer Menschen so verdrahtet sind, dass sie soziale Zusammenhänge anders wahrnehmen, und Geschlecht und Sexualität zu diesen sozialen Zusammenhängen gehören, wird die Art, wie wir unsere Identitäten konstruieren, zwangsläufig anders sein, selbst, wenn wir cis und hetero sind. Die meisten Menschen sortieren für ihr Verständnis von der Welt Dinge in Schubladen und Kategorien ein, aber autistische Menschen denken anders. Die Tatsache, dass ich mich nicht in eine von zwei Kategorien einordnen kann, ist gleichzeitig frustrierend und befreiend, weil es mich zwingt, mich außerhalb dieses Narrativs zu definieren.

In deinem Video bezeichnest du Stil als Rüstung. Was meinst du damit?

Als marginalisierte Person der Welt zu begegnen, ist wie sich auf einem Minenfeld voller Mikroaggessionen zu bewegen. Als hypersensitive Person kann dies, zusammen mit anderen sensorischen Herausforderungen, meine Agoraphobie auslösen. Ich musste Wege finden, mich zu wehren, und dabei hilft mir die Art, wie ich mich kleide und schmücke. In bestimmten Umgebungen braucht mein Körper Druck, damit ich mich beruhigen kann und dann trage ich Skinny Jeans und superenge Rollkragenpullover als Kompressionskleidung, zusammen mit Bandagen für meine hyperflexiblen Gelenke. An anderen Tagen bin ich vielleicht besonders empfindlich und trage einen Hoodie, der Geräusche und Licht dämpft und extra lange Ärmel hat, damit ich nichts mit den Händen berühren muss. Als Accessoires trage ich eine Blaufilterbrille und verschiedene Dinge, die mich vor Geräuschen schützen. Für mich ist Styling auch ein Werkzeug, mit dem ich Ableismus und Cisheteronormativität in jeder Umgebung, in der mich aufhalte, leise infrage stelle.


Als marginalisierte Person der Welt zu begegnen, ist wie sich auf einem Minenfeld voller Mikroaggessionen zu bewegen. Als hypersensitive Person kann dies, zusammen mit anderen sensorischen Herausforderungen, meine Agoraphobie auslösen. Ich musste Wege finden, mich zu wehren, und dabei hilft mir die Art, wie ich mich kleide und schmücke. In bestimmten Umgebungen braucht mein Körper Druck, damit ich mich beruhigen kann und dann trage ich Skinny Jeans und superenge Rollkragenpullover als Kompressionskleidung, zusammen mit Bandagen für meine hyperflexiblen Gelenke. An anderen Tagen bin ich vielleicht besonders empfindlich



Wo wir gerade beim Thema sind, den Körper als Medium zu nutzen. Lass uns über deine neongelbe Trucker Jacket reden, die du mit der Botschaft „Stop calling me a girl“ personalisiert hast.

Am Tag, nachdem ich die Jacke gemacht habe, versuchte ich, sie zur Schule zu tragen. In der Sicherheit meines Zimmers schien das eine echt gute Idee, aber dann war ich zu starr vor Angst, um aus dem Auto zu steigen und habe alle Kurse an dem Tag verpasst. Stattdessen habe ich im Badezimmer Fotos gemacht und die Leute online fanden sie toll, also habe ich die Jacke letzte Woche zum ersten Mal in der Öffentlichkeit getragen —beim Einkaufen. Als ich in den Supermarkt ging, brüllte ein Mann aus seinem Autofenster „Lass dich einweisen!“ Ich war erschüttert und fuhr zu einem anderen Laden. Als ich hineinging, kam mir jemand entgegen, starrte mich an, sah meine Jacke und rief „Girl!“, nur um mich zu provozieren.

Meine Gegenwart war diesen Männern so unangenehm, dass sie mich dazu bringen wollten, mich zur Wiederherstellung der „Ordnung“ aus der Gesellschaft zu entfernen. Ich kann mich in sowas ziemlich schnell hineinsteigern, so dass ich einen Weg finden musste, das Pendel in die andere Richtung zu schwingen. Also sagte ich mir, „Wow, meine Existenz ist so mächtig, dass ich das Gesellschaftsgefüge einfach dadurch bedrohen kann, dass ich schwul und im Supermarkt bin."

Meine Tasche ist voller Silberstreifen, weil sie es sein muss.

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Wie setzt du dich im Alltag für Veränderung ein?

Das Verzwickte an der Veränderung ist, dass wir nicht immer gegen Menschen kämpfen, sondern gegen Systeme, die von bigotten Ideen zusammengehalten werden, die manchmal auch in uns selbst sind. Ich bin vielleicht noch nicht an dem Punkt meiner Karriere, an dem ich die Macht habe, strukturellen Wandel zu verursachen, aber gerade helfe ich autistischen und anderen neurodiversen Menschen beim ersten Kampf gegen die Unterdrückung: einfach zu lernen, sich selbst zu mögen. Ich bin außerdem ein pingeliger Krieger für soziale Gerechtigkeit, der keine Angst davor hat, die Leute freundlich darauf aufmerksam zu machen, wenn ihr Gesagtes verletztende Ideologien fortführt. Damit mache ich mir nicht viele Freund*innen, aber selbst, wenn du Leute damit ärgerst oder ihre Schuldgefühle oder Empfindlichkeit triggerst, werden deine Worte sich in ihnen festsetzen und es denen leichter machen, die als nächstes zu ihnen durchdringen wollen.

Manchmal stelle ich mir vor, ein Kind zu treffen, das in eine Welt der Akzeptanz geboren wurde und ich ihm die Bedeutung von „Coming-Out“ erklären muss.

Wenn es nach dir geht, welche Gespräche zu queerer Befreiung sollte die Community intensiver führen?

Ich habe schon einige binäre trans* Menschen Ängste äußern hören, dass die non-binäre Community, besonders die, die Neopronomen benutzen, die trans* Community in ein schlechtes Licht rücken. Dass trans* Rechte weniger ernst genommen werden, wenn Menschen mit „sonderbaren“ Geschlechtern dazu kommen. Die queere Community sollte verstehen, dass das genau das ist, was queere Cis-Menschen in den 80ern und 90ern zu trans* Menschen gesagt haben. Fakt ist, dass ungefähr 70% der autistischen Community sich als nichtheterosexuell identifiziert (das Wort „Nonheterosexual“ wurde in der Studie benutzt). Die Mehrheit der sonderbaren queeren Menschen, die die als „cringe“ labelst, sind also einfach neurodiverse Menschen, die du mobbst. Wenn zu deiner sozialen Bewegung für Befreiung gehört, dass alle Beteiligten sozial akzeptabel sind, hast du komplett das Thema verfehlt.

Die perfekte Überleitung zu meiner letzten Frage … Welches Vermächtnis möchtest du hinterlassen?

Ich möchte den Menschen in meinen Communities ein Selbstverständnis schenken, das nicht aus der Unterdrückung kommt. Ich möchte Menschen mit ganz unterschiedlichen Privilegien verständlich machen, dass Abwehr Wachstum verhindert und Schuld sie davon abhält, ihre Privilegien als echte Verbündete einzusetzen. Verdammt, ich möchte, dass mein Vater lernt, wie er meine Pronomen in einem Satz benutzt. Aber am meisten von allem — und zitiere mich, wenn es passiert, auch wenn ich dann sehr, sehr alt bin — möchte ich ein Kind treffen, das in eine Welt der Akzeptanz geboren wurde und ich ihm erklären muss, was Coming-Out bedeutet. Dann weiss ich, dass ich alles getan habe, was ich konnte, und ich kann mich mit dem Wissen zur Ruhe setzen, dass die Menschen nach mir da weitermachen, wo ich aufgehört habe. So wie wir das bei den Älteren gemacht haben, die vor uns da waren.


Dieses Interview wurde aus Gründen der Länge und Klarheit bearbeitet.